Schande

1990 war ich Anfang 20, und ich genoss uneingeschränkt die vielleicht beste Fußball-Weltmeisterschaft aller Zeiten in Italien. Heute, rund 30 Jahre später, fühlt sich alles falsch an. In ein paar Tagen beginnt das WM-Turnier 2022 in Qatar, welches 2010 in einer verantwortungslosen Gemengelage aus Korruption, Gier, Profilierungssucht und Wahnsinn an ein Land vergeben wurde, das diese Veranstaltung nie und nimmer hätte bekommen dürfen. Aus dutzenden von Gründen, die keiner Erläuterung mehr bedürfen.

Nun ist es nicht so, dass ich vom Fußball vollends verraten werde. Denn als langjähriger Anhänger von Rot-Weiss Essen wird mir noch sehr viel vom echten, ursprünglichen Fußball zuteil; an der Hafenstraße empfinde und bekomme ich heute noch so ziemlich genau das, was ich schon vor 30 Jahren empfand und bekam. Ich bin nur ein bisschen älter geworden, minimal schwerer und wohl auch ein wenig gelassener. Aber ganz bestimmt nicht gleichgültiger. Ich verachte diese Mechanismen, diese verkommenen Strukturen zutiefst, die zur WM-Vergabe in ein solches Land geführt haben. Bar jeder Vernunft, ohne Respekt vor Menschen, Menschenrechten und diesem eigentlich wunderbaren Sport an sich. Und ja, ich war schon immer und bin wohl auch heute noch neben meiner hauptsächlichen Affinität – nennen wir es Liebe – zu RWE auch ein Anhänger der deutschen Nationalmannschaft. Allerdings, und das muss ich klar so benennen, hat diese Zuneigung in den letzten Jahren arg gelitten. Hockte ich als kleiner und später etwas größerer Junge in den 80ern begeistert vor dem Fernseher, um die Turniere 1982 in Spanien und 1986 in Mexiko zu verfolgen, nahm ich als schon ausgewachsener Mann mit großem Interesse und meistens auch Begeisterung an Italia 90 und auch noch späteren Turnieren teil, so erfolgte spätestens mit Beginn der Ära Löw/Bierhoff eine innere Abkehr. Zu glattgebügelt alles, zu viele Claims, zu egal wurde das Ganze, zu sehr Produkt und zu wenig Seele. Mit Ausnahme eines kleinen Peaks 2006 (ich hatte Spaß am Sommermärchen und stehe dazu). Die Kulmination erfolgte zwangsläufig 2018, schon vor Beginn des Turniers in Russland. Nicht, dass dieses Turnier komplett an mir vorbeigerauscht wäre. Aber es war für jeden in meinem Umfeld offensichtlich, dass ich nicht mehr mit dem Herzen und schon gar nicht mit meiner Seele dabei war. Ich sah zwar die meisten Spiele, rein aus Gewohnheit, aber ohne wirklichen Enthusiasmus. Ich hatte mich ein großes Stück weit entfremdet. Und als die deutsche Mannschaft ziemlich blamabel schon in der Gruppenphase ausschied, da war mir das relativ egal. So wie der spätere Titelträger dieses Turniers. Mir war eigentlich alles egal, an Russland 2018.

Stadion an der Hafenstraße, 10. November

Und nun Qatar. Dieses Turnier beginnt in ein paar Tagen, und ich bin von Begeisterung, von ehrlichem Interesse so weit entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Schon im Vorfeld erinnert mich der ganze Bums an eine peinliche Dorfkirmes. Und die Veranstalter machen wirklich alles menschenmögliche, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Durch Clownereien, die mit Fußball nichts zu tun haben. Jedwede Authentizität wird schon im Keim durch groben Unfug erstickt und ad absurdum geführt.

Es muss nun jeder Fußballfan für sich selbst entscheiden, wie er mit diesem Turnier umgeht. #BoycottQatar2022, man liest und hört es überall. Und das ist gut so. Aber was genau bedeutet das eigentlich, was ist ein tatsächlicher Boykott? Wenn ich nicht nach Qatar reise, mir keine lizensierten WM-Fanartikel kaufe, dann befinde ich mich wohl auf einem guten, einem richtigen Weg. Aber was, wenn ich mir hier zu Hause doch Spiele im Fernsehen ansehe, bin ich dann per se ein moralisch verkommenes Individuum, ohne Empathie und grundsätzlich von gleichgültiger Natur? Und wer entscheidet das? Ich maße mir nicht an, über solche Fragen zu richten. Und ich habe darauf auch keine Antworten. Ein perfekter Mensch bin ich auch nicht. Schon gar nicht ein perfekter Fußballfan. Es sollte nur jeder Mensch versuchen, abseits vom Sportlichen zu verinnerlichen, was für ein großer Fehler die Vergabe dieser Weltmeisterschaft nach Qatar war und weiterhin ist. Dass diese WM zur wahrscheinlich größten Schande in der Geschichte des Weltfußballs mutieren wird. Und darauf hoffen, dass so eine traurige Entscheidung nie wieder gefällt wird. Zum Wohle der Menschen und zum Wohle des Fußballs.

5 Kommentare zu „Schande“

  1. Ein Boykott wäre dann erfolgreich, wenn es für Magenta TV der größte wirtschaftliche Reinfall seit Ausgabe der Telekomaktie wird. Fließt kein Geld, wenn die FIFA Scheiße baut, kann die FIFA nicht mehr Scheiße bauen, denn die FIFA ist auf Geld angewiesen. Somit, während der WM lasse ich den Fernseher ausschließlich auf ARTE laufen. Muss man sich ja nicht anschauen, wir haben eine drei Zimmer Wohnung.

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  2. Der Beitrag hat es voll auf den Punkt gebracht am!!

    02.12.2010 – 17:30 Uhr

    die Riesen-Sensation ist perfekt Katar hat für 2022 die WM erhalten.
    Seit über einem Jahrzehnt haben alle beteiligten Verbände, Regierungen, Lobbyisten, Sponsoren, Medien, usw. das nicht verhindern wollen. Jetzt sollen die Mannschaften, Schiedsrichter und Fans ihr möglichstes versuchen. 😉 Irgenwie verkehrte Welt. Das schlimme ist, die Gelder sind schon längst verdient.

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