Im Epizentrum der Glückseligkeit

Die Essener Hafenstraße hat schon viele Geschichten geschrieben, über befreiende Siege und niederschmetternde Niederlagen. Triumphe und Tragödien sind hier noch ein wenig mehr als an vielen anderen Standorten des deutschen Fußballs ein wesentlicher Teil der Historie, zehren an den Nerven, lassen wahlweise hoffen oder verzweifeln, jubeln oder trauern. Ohne das ganz große Gefühl ging und geht es hier nie, Himmel oder Hölle, dazwischen gibt es so gut wie nichts. Als Anhänger von Rot-Weiss Essen reitest du eigentlich permant auf der Rasierklinge der Emotionen, und das ist letztendlich auch gut so. Denn das ist es, was den Fußball ausmacht. Wer will – kann – schon immer gewinnen, wer will schon immer verlieren. Es ist diese manchmal gnadenlose Gemengelage aus Scheitern und Wiederauferstehen, die die wohl schönste Nebensache der Welt ausmacht, die dich als Fan formt. Und in Essen an der Hafenstraße immer schon ein bisschen mehr.

Als ich Samstag schon am Vormittag mit großer Hoffnung und auch Zuversicht zur Hafenstraße fuhr, da war auch dieses andere, bösartige Gefühl anwesend, ganz hinten im Kopf oder ganz unten im Magen, wie man möchte. Ziemlich klein, aber doch trotzdem da. Die Angst zu scheitern, es wieder einmal zu verkacken, wie man hier im Ruhrgebiet so schön sagt. Im letzten Spiel, in der letzten Minute. Ich habe dergleichen in wirklich jeder denkbaren Form schon erlebt, jeder RWE-Anhänger kann da seine eigene, unvergessliche Geschichte beisteuern. Wie aus einem sicher geglaubten Erfolg doch noch ein krachender Schlag in die Fresse wurde. Ich brauche zum Beispiel nur „Lübeck“ oder „Münster“ (vor 20 Jahren) in den Raum werfen, zwei einfache Worte, und sofort stellen sich bei jedem die Nackenhaare hoch, der es seit vielen Jahren mit Rot-Weiss Essen hält. Bittere Stunden und Tage, mein Freund.

Aber an diesem Samstag, an diesem 14. Mai des Jahres 2022 im letzten Spiel der Saison gegen Rot Weiss Ahlen im Stadion an der Hafenstraße behielt nicht der leise und fiese Zweifel die Oberhand, der oft klassische und brutale Knock-Out auf der Zielgeraden blieb uns Gott sei Dank erspart. Ganz im Gegenteil wurde schon relativ früh deutlich, dass dieser Tag ein gutes Ende für Essen nehmen würde. Nach dem 1:0 für RWE und dem kurz darauf erzielten 1:0 der Zwoten des 1. FC Köln beim Counterpart in Münster war aufgrund der Tordifferenz bei Punktgleichheit ziemlich klar, ausgehend von einem Sieg, dass dieser Tag als Tag der Auferstehung in die rot-weissen Geschichtsbücher eingehen würde. Als Erlösung, als die lang ersehnte Katharsis. 14 Jahre Abstinenz vom Profifußball, 14 lange Jahre der manchmal schwierigen Geduld und der immerwährenden Hoffnung wurden an diesem Tag endlich belohnt. Und das in höchstem Maße. Die Hafenstraße explodierte bei Abpfiff wie ich es lange nicht mehr – oder vielleicht noch nie? – erlebt habe, der grüne Rasen wurde von den Massen rot und weiss geflutet und ganz Essen versank anschließend in einem bierseligen Taumel der Glückseligkeit. Manche feierten bis in den späten Sonntagmorgen hinein, wer kann, der kann. Der Autor dieser Zeilen ließ den Tag später bei Bier und Wein gemütlich im Garten ausklingen, man gönnt sich ja sonst nichts. Und wir alle haben uns das verdammt nochmal auch redlich verdient.

Mit diesem Tag endete für Rot-Weiss Essen das viel zu lange Kapitel Regionalliga West, und ich hoffe für immer. Dieser Verein und sein Umfeld waren und sind zu groß, zu mächtig für die Viertklassigkeit, der schlafende Riese ist nun endgültig erwacht. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die den 14. Mai 2022 erst möglich gemacht haben. Der Mannschaft, dem Staff, den Verantwortlichen um Marcus Uhlig, jedem Einzelnen, der bei und für Rot-Weiss Essen tätig ist. Und auch Christian Neidhart, der als Trainer die Grundlage auf dem Platz für diesen Erfolg gesät hat. Alle haben dazu beigetragen, und ich werde das niemals vergessen. Nur der RWE.

8 Kommentare zu „Im Epizentrum der Glückseligkeit“

  1. Ich bin zwar Fan der „anderen rot-weißen“, etwas weiter südlich … und der 23.12.2020 schmerzt immer noch… 😉
    Aber familienbedingt (Stiefsohn & sein Vater) sind die Sympathieren natürlich auf Eurer Seite! Tolle Leistung!
     

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  2. Herzlichen Glückwunsch nach 38 Spielen – gefühlt so knapp wie noch nie – war es dann doch das gute Ende für RWE. Hoffentlich bleibt die Vereinsführung auf dem Boden der Realität. 1953 (Pokal) und 1955 (Deutsche Meisterschaft) sind Historie. Jetzt Fokus auf den Klassenerhalt in dieser Pleite (sorry Dritte) Liga und sukzessive steigern.

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    1. Jetzt ist es erstmal geschafft, Hauptsache nach 14 Jahren wieder im echten Profifußball. Die Schweineliga ging irgendwann nur noch auf die Nerven.

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