„Infantino hat seinen moralischen Kompass – sofern er je einen hatte – völlig verloren“

Jana, als überzeugte Anhängerin und Verfechterin des authentischen Fußballs: Welche drei Begriffe fallen Dir spontan ein, wenn Du die – zumindest für mich – magischen drei Worte Rot-Weiss Essen hörst?

Natürlich „der Boss“, „Weiss wie Essen“ und mein Lieblings-Twitter-Kollege C07, André. Eins und drei muss ich nicht erklären. Bei zwei nur so viel: Für mich als frühere kicker-Redakteurin waren Schreibweisen der Vereine heilig. „Weiss wie Essen“ war dann die Gedächtnisstütze für Praktikanten, die ich betreuen durfte…

Arbeiten wir uns mal an zwei Personen des Fußballs ab, die in letzter Zeit eher durch unangenehme Handlungen und Aussagen aufgefallen sind. Erstens ein Mensch, den ich aufgrund einer Erkrankung – ich maße mir grundsätzlich nicht an, Dinge dieser Art infrage zu stellen – anfangs vehement verteidigt habe, der aber leider zusehends die Bodenhaftung verliert, zuletzt durch seine Forderung, im „Aktuellen Sportstudio“ nur dann als Gast zu erscheinen, wenn bestimmte Fragen ausgeklammert werden, was für mich ein absolutes no-go ist. Max Eberl.

Ich fand Max Eberl zu Gladbacher Zeiten richtig klasse. Meinungsstark, authentisch, mit dem Blick auf die richtigen Dinge und dem Fußballherz am rechten Fleck in diesem knallharten Geschäft. Der Mann tat dem Profifußball gut. Als er von seiner Krankheit sprach, habe ich mit ihm mitgeweint… er hat sich nach einer Pause bewusst entschieden, auf die große Fußballbühne zurückzukehren. Und er sucht sich – warum auch immer – ausgerechnet RB Leipzig als Verein aus. Ich bin eine gebürtige Leipzigerin, anfänglich waren bei mir für diesen Verein schon Sympathien da. Diese Stadt ist sportbegeistert, wahrscheinlich hätte dieses Konstrukt andernorts gar nicht funktioniert, weil die Begeisterung gefehlt hätte. Aber zurück zu Eberl. Der Mann ist Jahrzehnte im Geschäft, geht nun zu diesem umstrittenen Verein, den er in der Vergangenheit selbst kritisiert hat. Er muss gewusst haben, was da auf ihn zukommt. Dann entscheidet er sich für ein Interview im Sportstudio. Er kennt die Mechanismen, Sportjournalisten haben die Pflicht, aktuelle Entwicklungen anzusprechen. Das will nun mal der Medienrezipient. Und da kann ich noch so sehr Themen vorher abstecken – was eh ein Unding ist. Ich fand das einfach schwach von ihm. Und wir reden hier vom Sportstudio, das sind sehr fähige Kollegen, denen ich zutraue, respektvoll mit sensiblen Themen umzugehen.

Zweitens ein Mensch, der seine Bodenhaftung wohl schon vor sehr, sehr langer Zeit verloren hat, falls er jemals eine besaß. Und der nach seiner, nennen wir es mal freundlich Wiederwahl vor Kurzem die Welt mit dem einzigartigen Bonmot „All those who love me – there are so many – and those who hate me – I know, there are few: I love you all! Of course, today especially.“ beglückte. Wenn ich wie immer frei von der Seele sprechen darf: So redet eigentlich nur ein völlig durchgeknallter Diktator in einer Hollywood-Komödie. Gianni Infantino.

Ich hatte immer gedacht, Vorgänger Sepp Blatter ist schlimm… Infantino ist schlimmer, skrupelloser, grotesker. Der Mann hat seinen moralischen Kompass – sofern er je einen hatte – völlig verloren. Viel schlimmer aber finde ich, wie selbstverständlich eine große Mehrheit in der Fußball-Welt ihn klasse findet. Seit ich denken kann, verfolge ich den Fußball. Und es geht seither immer mehr um Geld und Macht, die Spirale der Skrupellosigkeit dreht sich immer weiter. Man schaue sich die Wahl der WM-Gastgeberländer oder des Präsidenten an, man blicke auf die VIP-Logen bei den WM-Turnieren. Bei all den absurden Auswüchsen dieser Branche denke ich mir: Vielleicht ist Infantino genau der richtige Präsident für diesen Saftladen.

So ziemlich alle Fußballanhänger – wohl mit Ausnahme der Bayernfans – wünschen sich ja nach gefühlt 57 Jahren mal einen anderen Deutschen Meister, als den selbsternannten bajuwarischen Stern des Südens. Und tatsächlich, in dieser Spielzeit haben noch einige Vereine Chancen, mal rechnerisch ganz gut, mal weniger gut. Wenn Du wählen dürftest – wer darf es denn werden?

Der 1.FC Nürnberg schafft es rechnerisch ja gerade nicht, deshalb wähle ich die sympathischste Variante: Den SC Freiburg. Das hat am ehesten was mit Fußballromantik für mich zu tun. Der Trainer ist gefühlt 30 Jahre durchweg im Amt, das ist außergewöhnlich. Die Mannschaft zeigt Charakter, das Vereinsumfeld hat Bodenhaftung, die sind einfach sympathisch da unten im Breisgau. Aber um ehrlich zu sein: Es würde schon reichen, wenn diesmal NICHT der FC Bayern Meister wird. Wer die Schüssel dann holt, ist egal.

Wir sind in etwa im selben Alter, wobei Du natürlich noch etwas jünger bist, wir haben bei Weltmeisterschaften wie Mexico ’86 und Italia ’90 in jungen Jahren mit der Deutschen Nationalmannschaft mitgefiebert, waren tatsächlich mit dem Herzen dabei. Weil sie damals kein reines Produkt war, abgehoben von der Basis, sondern greifbar, identitätsstiftend. Abseits von der momentanen Diskussion um Rudi Völler, den wir ja beide für den Zeitraum bis zur kommenden EM in Deutschland als eigentlich gar nicht falsch für seine Aufgabe empfinden: Besteht überhaupt die Chance, die Möglichkeit, dass wir irgendwann mal wieder diese kindliche und reine Freude über dieses Team aufbringen können, wie es früher einmal der Fall war?

Das wird schwer. Das geht nicht von heute auf morgen, das ist ein langwieriger Prozess. Zu sehr hat man sich von den normalen Leuten entfernt. Die Nationalmannschaft ist entrückt, ich erkenne keine echte, gelebte Fan- und Amateurnähe. Es braucht geerdete Identifikationsfiguren. Du musst die Leute da draußen ernst nehmen und darfst nicht in deiner eigenen Blase leben. Fehlerkultur und Transparenz wären hier zwei Eckpfeiler. Du musst dich gesellschaftlichen Entwicklungen stellen und echte Veränderung wollen und leben. Die Basis aber ist und bleibt immer der Erfolg.


Ich würde mich selbst, auch aufgrund meines schon dezent fortgeschrittenen Alters, als Old School Fan bezeichnen. Ich mag Normalos lieber als Ultras, schwenke lieber meinen Schal als einen Doppelhalter, mag usseliges Wetter am Spieltag eher als strahlenden Sonnenschein, fluche schon mal lieber, als konstruktive Kritik zu äußern und Bier & Bratwurst sind für mich unabdingbare Bestandteile des Spiels, Schnickschnack brauche ich nicht. Wie sieht Dein perfekter Stadiontag aus?

Der perfekte Stadiontag findet mit Freunden statt. Mein Mann ist Bayern-Fan, das ist hoffnungslos. Ich brauche ne ordentliche Bratwurst und ein bis x Radler. Je nach Spielverlauf. Ich will im Stadion mitfiebern, mitgrölen und jubeln. Die Jungs müssen kämpfen bis unter die Grasnarbe. Mein perfekter Stadiontag würde mit dem Aufstieg des 1.FC Nürnberg in die 1. Liga enden…

Was mir im Fußball schon länger auf die Nerven geht, obwohl ich als Anhänger eines Drittligisten davon aktuell gar nicht betroffen bin, das ist der VAR. Ich fluche schon vorm Fernseher, wenn der überaus eifrige Kölner Keller den Schiedsrichter auf eine etwaige Korrektur hinweist, weil Spieler A vielleicht eine Streichholzbreite im Abseits stand, oder Spieler B durch die Auslegung einer obskuren Handspielregel – die auch ein Thema für sich wären – einen fragwürdigen Elfmeter verursacht. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie ich in manchen dieser Situationen an der Hafenstraße reagieren würde. In meinen Augen schadet der VAR der Seele des Spiels, und die Diskussionen über Eingriffe und Entscheidungen nehmen sukzessive zu. Jana – sollten wir den VAR nicht besser wieder abschaffen? 

Ja, bitte! Das ist so grausam. Der VAR versprach mehr Gerechtigkeit. Da lache ich mich schlapp. Bei all den Entscheidungen trotz Videobeweis kommst du aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Völlige Verwirrung. Das Schlimmste sind die spontanen Emotionen, die mit dem VAR auf der Strecke bleiben. Du kannst dich ja heute gar nicht mehr frei über ein Tor freuen, weil es gefühlt 10 Minuten später wieder einkassiert wird. Die Seele des Spiels bleibt im Kölner Keller stecken.

Jana Wiske, ehemalige Redakteurin beim kicker-Sportmagazin, lehrt als Professorin an der Hochschule Ansbach, schreibt als freie Autorin u.a. für den kicker und ZEITonline, Glubb-Fan. Foto Kuechenmeister.

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